Sie löst ihm die Zunge.

Eine lustige Geschichte von Paul Bliß
in: „Freudenthaler Zeitung”, Sonntagsbeilage, 1914 Nr. 38 und 39


Die Oper war zu Ende; noch war der Vorhang nicht gefallen, als schon ein brausender Jubel hervorbrach, der die Darsteller wieder und wieder hervorrief.

Fräulein Eva Becker, die die „Isolde” herrlicher denn je gesungen hatte, wurde förmlich überschüttet mit Jubel und Beifall. und manches Sträußchen, manche lose Blume flog der Gefeierten zu Füßen.

Endlich saß die bejubelte Sängerin allein in ihrer Garderobe, und während die alte Dienerin draußen jeden Besuch abwehrte, war Betti, das flinke Zöfchen, gewandt und behend um ihre Herrin beschäftigt, zog ihr die kostbaren Gewänder aus und legte dafür das bürgerliche Kleid des Alltags zurecht.

„Herrlich war es, gnädiges Fräulein!” rief im hellen Entzücken die kleine Zofe, und sie sah, daß auch jetzt noch eine Träne im Auge der Kleinen perlte. Das tat ihr wohl. O ja, sie fühlte und wußte es selbst, daß sie heute besonders gut gesungen hatte, war sie doch gerade heute besonders gut disponiert gewesen, und hatte er, er doch in der linken Loge gesessen, ganz versteckt zwar, in eine Ecke gedrückt; sie aber hatte ihn doch gesehen. Da hatte sie denn hauptsächlich für ihn, für ihn allein gesungen. Und nun jubelte ihr Herz heimlich auf, denn sie wußte, daß er nun draußen am Künstlerausgang auf sie warten würde.

„Nun, Betti,” rief sie voll Ungeduld, „was ist heut mit dir?” Und gutgelaunt scherzte sie: „Laß jetzt schon die Heulerei beiseit! Schnell meinen Frisiermantel her, damit wir endlich heimkommen!”

Flink und behend hantierte Betti um ihre Herrin herum. Das ließ sie sich nicht zweimal sagen, denn auch ihr lag ja daran, so bald als möglich heimzukommen, auch ihrer harrte ja jemand, der gewiß schon voll Ungeduld am Ausgang auf und ab gehen würde.

Endlich, endlich war man denn so weit.

In ihrem warmen Pelzmantel schritt Eva über den langen Korridor, grüßend und nickend, denn jeder der vielen Kollegen zog ehrerbietig den Hut, und jede Kollegin grüßte mit echter Herzlichkeit. All das tat ihr so wohl, all das verbesserte nur noch ihre schon so gute Laune. Mit eiligen Schritten huschte sie weiter, kaum konnte Betti so schnell ihr folgen, mit pochender Sehnsucht strebte sie dem Ausgang zu, wo er, er doch sicher heute warten würde.

Aber als sie ins Vestibül kam, fand sie zwar einige ihrer getreuen Verehrer und Anbeter vor, er jedoch, er war nicht dort.

Wieder umfing sie heller Jubel, wieder Anerkennung, Blumen und Gratulationen, und jeder der Herren erbat sich die Ehre, die Gnädigste einladen zu dürfen. Sie aber nahm alles dankend und freundlich hin, und lehnte natürlich jede Einladung ab. Kaum konnte sie ihre Enttäuschung verbergen. Endlich machte sie kurzen Prozeß, — noch ein paar schnelle Grüße und Händedrücke, dann saß sie im Wagen und fuhr nach Hause.

Und nun mit einem Male war all die gute Laune dahin. Trüb und sinnend saß sie in der Wagenecke und zermarterte sich das Hirn. Weshalb kam er auch heute wieder nicht? Weshalb überhaupt hatte er nicht längst schon zu ihr gesprochen? Er mußte es doch gemerkt haben, daß sie seinem so köstlich heimlichen Werben nicht ohne Interesse zusah! Weshalb also wurde er dann nicht endlich deutlicher?! Er konnte doch nicht ewig den schmachtenden Anbeter spielen!

Trüber und trüber wurde es ihr ums Herz.

Und als sie endlich in ihrem traulichen Heim war, da mußte sie alle Kraft zusammennehmen, um nicht wirklich weich zu werden, und die treue alte Haushälterin hatte redliche Mühe, ihr schmackhaftes Abendbrot anzupreisen.

„Immer essen, essen, liebes Fräulein Eva!” bat die weißhaarige Alte, deren steife Haubenbänder stolz und prangend zu beiden Seiten des Kopfes thronten, „immer essen! Gerade nach solcher Nervenanspannung ist eine nahrhafte Mehlzeit die beste Gegenwirkung! Ja, ja, mein seliger Papa war nicht vergeblich Mediziner, seine alte Tochter hat auch was davon profitiert!”

Lächelnd und gutherzig nickte Eva der Alten zu, und dann aß sie auch wirklich mit recht gutem Appetit, aber als das Altchen dann nach Tisch eine gemütliche Unterhaltung anfangen wollte, da empfahl sich Eva schneller als sonst, denn gerade heute war es ihr ein Bedürfnis, mit sich und ihren Gedanken allein zu sein.

Mit verstecktem Schmunzeln sah die alte Frau ihr nach; oh, sie ahnte wohl, was ihrem lieben Schützling fehlte! Ja, ja, auch sie war ja einmal jung gewesen, auch sie hatte ja solche Tage erlebt, an denen man sich bei der besten Mahlzeit und in der besten Gesellschaft vereinsamt fühlte. — Geduld nur! Immer nur Geduld! Wie lange wird es denn noch dauern, dann kommt der „Herr Doktor” in großer Gala und wird jene inhaltsschwere Frage tun, die aller Sehnsucht und allen einsamen Schmerzen ein schnelles und ein fröhliches Ende bereitet! — O ja, sie kannte ihr liebes Fräulein! — Sie wußte recht gut Bescheid in ihrem Herzen! Und still schmunzelnd ging sie hinaus.

*           *           *

Am nächsten Morgen, als Betti im Studierzimmer der Gnädigen recht behaglich Staub wischte und alles in Ordnung brachte, bekam die kleine Zofe keinen schlechten Schreck, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und ihr Bräutigam, der schmucke Willi, hereinstürmte.

„Guten Morgen, Schatzi! Das ist mal eine frühe überraschung, wie?” rief fröhlich der lustige Bursche und schüttelte derb die Hand der Kleinen.

Die aber war so überrascht und auch so überrumpelt, daß sie vorerst überhaupt gar nichts erwidern konnte.

Lachend sah er sie an. „Was hast du denn? Steh doch nicht so versteinert da!”

Und jetzt fand sie ihre Beherztheit wieder. Mit wirklich erzürnten Augen drang sie auf ihn ein und begann zu schelten: „Ja, so sag mir nur, wo um alles in der Welt nimmst du denn die unerhörte Dreistigkeit her, mich hier im Zimmer der Gnädigen aufzusuchen?”

Lachend aber stumm szand er da.

Und sie immer erregter: „Hab' ich dir nicht gesagt, daß du mich nur draußen in der Küche aufsuchen darfst?! Weshalb folgst du mir bis hierher?! Wenn die Gnädigste kommt, wirft sie uns alle beide hinaus!”

Lachend verneinte er: „Noch schläft sie ja!”

„Dann hättest du warten sollen , oder mich rufen lassen sollen!”

Und wieder schüttelte er fröhlich den Kopf, nahm Hut und Stock und legte beides auf einen Stuhl. Dann trat er langsam näher, zog mit einer gewissen Wichtigkeit einen Brief aus der Tasche, und endlich begann er feierlich: „Warten konnte ich nicht, dazu war ich viel zu erregt, und weil es eine für uns beide so wichtige Sache war, deshalb wählte ich den kürzesten Weg und kam direkt zu dir herein!”

Angstvoll und fragend sah sie ihn an, blickte aber auch sofort zur Tür der Gnädigen hin.

Er jedoch hob nelustigt den Brief auf und rief beinahe ausgelassen: „Weißt du, was ich hier in der Hand habe?”

„Um Gottes willen, sei doch nicht so laut!” bat sie flehentlich, mit noch einem Blick auf die Tür nebenan.

„Ahnst du, was das hier enthält?” jubelte er noch einmal.

„Aber wie soll ich denn das ahnen?”

„Unser Glück enthält es! Jawohl, unser Glück! Dieser Brief bringt mir die Nachricht, daß ich jetzt fest angestellt bin! Na, was sagst du denn nun?”

Und jetzt sah auch sie mit fröhlichen Augen ihn an. Gleich aber fragte sie dann:

„Also können wir nun ja heiraten, wie?”

„Gewiß können wir das!” nickte er belustigt, „je eher, desto besser!”

Da strahlte ihr ganzes Gesicht. Vergessen war alle Angst vor dem Fräulein. Und als er da seine Arme ausbreitete, da sank sie ihm an die Brust, und lachte selige Freudentränen.

„Nun, hab ich nicht richtig gehandelt, daß ich gleich direkt zu dir 'reinkam?” fragte er heiter. „Solche Freudenbotschaft überbringt man doch am liebsten selbst! Heute früh mit der ersten Post kam der Glücksbrief an. Da ließ ich alles stehen und liegen und lief direkt zu dir, um dir zuerst diese Freudenbotschaft mitzuteilen.War das nun nicht ganz richtig gehandelt?”

Ein stummer Glücksblick und ein herzhafter Kuß warten ihre Antwort.

Glückselig schloß er sie noch fester in seine Arme und überhäufte sie mit verliebten Zärtlichkeiten.

Plötzlich aber befreite sie sich aus seinen Armen, begann zu lauschen, und dann flüsterte sie rasch und verängstigt: „Das Fräulein kommt! Schnell hinaus!”

Er aber blieb, und belustigt meinte er: „Nun gut, mag sie kommen, jetzt kann sie's doch wissen, über kurz oder lang mußt du's ihr ja doch sagen, daß wir heiraten.”

Doch sie beschwor ihn flehentlichst; „Aber nicht jetzt und nicht so! Ich schämte mich zu Tode, wenn sie uns hier zusammen fände! Tu mir den Gefallen, geh! geh! Schnell, nur ganz schnell!”

Das begriff er nun nicht. Lächelnd wollte er sich wehren. Sie aber wendete jetzt alle ihre Kraft auf, schob ihn resolut zur Tür hinaus, und als er glücklich draußen war, flüsterte sie ihm zu: „Wart nur in der Küche auf mich!” Dann schlo0 sie energisch die Tür hinter ihm.

Es war aber auch die höchste Zeit, denn schon trat drüben die Herrin ein.

Eva war nicht in bester Laume. Die Nacht hatte ihr wenig Ruhe gébracht. Mißstimmung und Sehnsucht hatten sie lange wach gehalten. Und als endlich der Schlaf da war, kamen mit ihm quälerische Träume und allerlei Angstvorstellungen, so daß sie des Morgens schlsff und matt erwachte.

Als sie jetzt eintrat, sah sie erstaunt auf die Zofe, deren Gesicht noch immer glühte vor Erregung.

„Wer war denn hier?” fragte sie leichthin.

Betti wurde verlegen und ihr Gesicht wechselte plötzlich die Farbe; sie starrrte das Fräulein an, brachte aber kein Wort hervor.

Als Eva sie so dastehen sa, schwand plötzlich ihre schlechte Laune, und scherzend fragte sie: „Ja, wie stehst du denn nur da? Was ist dir passiert?”

Immer mehr erglühte Betti, doch nicht ein Wort vermochte sie zu sagen.

Und jetzt erst sah die Herrin ihre Zofe ein wenig genauer an. „Und wie du nur ausschaust!” rief sie leicht spöttelnd. — „das Haar ganz zerzaust, und die Schleife hängt nur noch an einer Nadel!”

Da zog Betti ihr elegantes leichtes Schürzchen vors Gesicht und fing an bitterlich zu schluchzen,.

Erstaunt und äußerst belustigt ließ Eva sich in einen der bequemen Sessel fallen, schüttelte den Kopf und rief fröhlich: „Also jetzt beichte und sofort. Was ist hier passiert?”

Unter jämmerlichem Schluchzen antwortete die Kleine endlich: „Mein Schatz war hier und hat mir gesagt, daß er angestellt sei und daß wir jetzt heiraten könnten!”

Lachend sagte Eva: „Und darüber heulst du, Dummchen du?! Darüber solltest du dich doch freuen!”

„Ich freue mich ja auch sehr darüber!” schluchzte die Zofe bitterlich weiter.

„Das merke ich!” lachte Eva laut. Dann aber stand sie auf, trat zu der Kleinen hin, tröstete sie und steckte ihr die Schleife fest,

Und jetzt fand Betti auch den Mut, sich zu entschuldigen. Mit schnellen und flehenden Worten berichtete sie, was geschehen war und bat um Vergebung, daß ihr Schatz hier so ungestüm eingedrungen war.

Still und nachdenklich hörte Eva zu; und während die Zofe breit und gefällig erzählte, wanderten die Gedanken der Herrin weiter und weiter, — und wieder kam diese schmerzvolle Sehnsucht, die sie zu ihm zog, zu ihm, der ihr doch alles, alles war.

Als Betti dann nicht mehr sprach, da erst fand Eva sich wieder in die Gegenwart zurück; nun stand sie auf und wünschte der Kleinen Glück.

Mit fröhlichem Gesicht und einem zierlichen Knix wollte die Zofe davoneilen, als eben die Türglocke erklang.

Gespannt sah die Herrin auf.

„Sind gnädiges Fräulein zu Hause?” fragte die Kleine schelmisch.

Eva nickte: „Aber nur für Herrn Doktor Behm.”

Mit der ehrbarsten Miene von der Welt bejahte Betti, lief zur Tür und kicherte heimlich in sich hinein. — O, auch sie wußte recht gut Bescheid!

Eva aber saß mit pochendem herzen und lauschte.

Und diesmal hoffte sie nicht vergeblich, diesmal war es der so sehnlich erwartete Herr Doktor. Mit glücklichen Augen trat er näher, überreichte ihr einen Strauß ganz dunkler Camill-Rotrom-Rosen, die sie so gern hatte, und gratulierte ihr zu dem großen und berechtigten Erfolg von gestern abend.

Dankend sah sie zu ihm auf; ihr Herz pochte stark, und in ihren Augen war zu lesen, was in ihrer Seele lebte, aber sie beherrschte sich musterhaft, lächelte sehr freundlich und sagte; „Ja, ich habe sie gestern wohl bemerkt, zwar saßen Sie ganz in die Ecke gedrückt, aber mir entgeht so leicht doch nichts im Zuschauerraum!”

Da wurde er schon wieder leicht verlegen.

Er ärgerte sich maßlos darüber. Gerade heute hatte er sich vorgenommen, dieser unmännlichen Schwäche energisch entgegenzuarbeiten, gerade heute wollte er ein paar Worte von Wichtigkeit mit der Angebeteten sprechen, und nun, da sie die ersten ihm freundlichen Worte sagte, nun war wieder diese atembeklemmende Angst da, die ihn so hilflos machte!

Gräßlich war das! Und er nahm alle Kraft zusammen, dieser Schwäche Herr zu werden.

Da er noch immer nichts sagte, so begann sie jetzt von neuem:

„Ich hätte mich übrigens sehr gefreut, wenn ich gestern abend noch ein paar Worte mit Ihnen hätte sprechen können.” Heiter und ganz unbefangen sah sie ihn an. „Weshalb sind Sie denn eigentlich so schnell gegangen?”

Er fühlte, wie sein Gesicht leicht erglühte, und mit äußerster Kraftanstrengung erwiderte er: „Verlachen Sie mich, Fräulein Eva! Aber gestern abend konnte ich wirklich nicht bleiben!”

Erstaunt blickte sie zu ihm hinüber,

Und erregt sprach er weiter; „Wirklich nicht! Denn Ihr Gesang und Ihre große Kunst hatte mich so in Aufregung gebracht, da0 ich in einer ganz anderen Welt lebte! — Wahrhaftig, das alles war wie ein Gruß aus jenen unbekannten Reichen, die uns die Phantasie in schönen Augenblicken vorgaukelt! Wie ein überirdisches Wesen kamen Sie mir vor! Ich hätte — um alles in der Welt — gestern abend mit Ihnen nicht drei Worte sprechen können!”

Recht voller Wehmut nickte sie: „Und doch hat dies ,überirdische Wesen' nachher hier zu Hause mit recht gesegnetem Appetit kalten Braten und Salat gegessen! Und wenn Sie mich ein bißchen unterhalten hätten, wäre ich sehr froh gewesen, denn ich habe mich fast zu Tode gemopst!”

„Das ist doch nicht Ihr Ernst!”

„Aber ja! Bittrer Ernst sogar!”

„Unmöglich! Ganz undenkbar! Sie, die gefeierte Künstlerin, Sie haben doch so viele gute und geistvolle Freunde, — da können Sie einen so schlichten, stillen Gelehrten wie mich doch wirklich nicht vermissen!”

Fräulein Eva seufzte, schüttelte den Kopf, sah ihn gutherzig lächelnd sn und dachte: O, du gutes, großes Kind! Dann sagte sie ernsthaft: „Freunde — nun ja, ich habe deren eine ganze Menge, was man eben so Freunde nennt, und wenn ich wollte, gewiß, ich könnte immer in geistvoller Unterhaltung sein, aber ich will ja gar nicht! Wenigstens so was nicht! — Ja, ja, sehen Sie mich gar nicht mit so erstaunten Augen an! Es ist wirklich so! — Im Grunde genommen ist mir all dieser Trubel fad und langweilig und, offen gesagt — höchst schnuppe! Ich bin henügsam. Nur einen Freund brauche ich, nur einen einzigen! Der aber, der muß mir ganz gehören, auf den muß ich bauen können!”

„Na und — haben Sie den denn nicht auch?” fragte er mit leiser Angst.

Sie spielte mit einer Bandschleife ihres Kleides, sah lächelnd vor sich nieder und antwortete: „Wenn ich ihn auch noch nicht habe, so hoffe ich doch, daß ich ihn nun bald bekommen werde.”

Das gab ihm einen Ruck. Nun glaubte er genug zu wissen. Nun gab es nur eins, sich so bald als möglich mit Anstand zu drücken,

Und so sprang er nun schnell von dem Thema ab, redete noch ein paar alltägliche Worte, die sie ganz erstaunt aufblicken ließen, und dann, ehe sie sich noch recht besinnen oder ihn zurückhalten konnte, war er schon mit einem übereiligen Adieu und Handkuß auf und davon.

Sprachlos stand sie da und sah ihm nach, War das nun wohl möglich?! — So ein Mann! So ein Mann! — Rein als ob er blind wäre! — Sie glaubte, sich die größte Mühe gegeben zu haben, ihm die Zunge zu lösen, ihm nun endlich zu zeigen, daß sie doch nur auf seine Frage wartete, — und nun lief er davon, lief einfach glattweg davon!

Das begriff sie nicht. ärgerlich trat sie an den Flügel, nahm ein Notenblatt auf und wollte mit dem Studium eines neuen Liedes beginnen. Aber vergeblich. Sie kam nicht in Stimmung. Und bald warf sie das Blatt wieder hin. Mißgestimmt trat sie ans Fenster und sah hinaus. Aber da wurde sie noch ärgerlicher.

Herr Meyer, einer ihrer wütendsten Verehrer, nahte sich und schleppte einen Riesenstrauß mit.

Der hatte ihr jetzt gerade auch noch gefehlt.

Schnell rief sie der Zofe zu, daß niemand vorgelassen werden sollte, dann schlüpfte sie in ihr Zimmer, denn es war Zeit, sich zur „Probe” umzukleiden. Und Betti focht nun mit dem beleibten, gutmütigen Herrn Meyer einen Strauß aus.

„Aber wenn ich Ihnen doch sage, das gnädige Fräulein ist nicht zu Hause! Glauben Sie mir doch nur!”

Lächelnd nickte Meyerchenihr zu: „Alles glaube ich Ihnen.”

Damit schob er die zierliche kleine Zofe, obgleich sie sich tapfer wehrte, zur Seite, und im nächsten Augenblick war er im Studierzimmer der Sängerin.

„Spaß! Mit mir macht man doch nicht solche Chosen!” rief er selbstbewußt lachend.

Mit ärgerlichem Lächeln stand Betti da.

„Vielleicht glauben Sie mir nun, daß die Gnädige nicht hier ist?” sobei sie ins leere Zimmer deutete.

Meyerchen erwiderte gar nichts darauf, zog ein Goldstück aus der Westentasche und hielt es ihr hin: „Kennen Sie das?”

„Na und?” fragte Betti nur.

Da zog Meyerchen noch ein Goldstück heraus und sagte: „Nun also?!”

„Aber so reden Sie doch, bitte, deutsch, Herr Meyer!” rief die Kleine empört.

Meyerchen zog die schultern hoch.

„Deutsch?” fragte er näselnd. „Zwei goldene Monarchen — ist das vielleicht französisch!”

„Was also wünschen Sie noch, bitte?”

„Nur, daß Sie mich melden!”

„Behalten Sie Ihr Geld; die Gnädige ist nicht hier — mehr kann ich Ihnen nicht sagen.”

Da steckte Herr Meyer seine zwanzig Mark wieder ein und wollte gehen. Plötzlich aber blieb er stehen, riß beide äuglein weit auf, lächelte gar spitzfindig, sah die Zofe spöttelnd an und sagte interessiert: „Aha! Aha! Deshalb also!”

„Weshalb? Wenn ich bitten darf!”

„Deshalb!” — Und dabei wies er auf einen Stuhl vor der Tür , auf dem der Hut und Stock noch immer lagen.

Einen Augenblick war Betti sprachlos, aber nur einen Augenblick lang. Sofort hatte sie Hut und Stock ihres Bräutigams erkannt, der in der rasenden Eile vorhin vergessen und hier liegen geblieben war. Dann begriff sie sofort die Situation, und nun sah sie ihn fragend an.

„Ein Herrenhut und Stock, wie ich sehe!” sagte Meyerchen lächelnd.

„Jawohl, Sie sehen ganz recht!” erwiderte die Kleine ärgerlich und nahm sich vor, diesem aufdringlichen Herrn jetzt mal eine Lektion zu erteilen, damit ihr Fräulein von dem Menschen befreit ward.

„Dann allerdings — ja, dann will ich natürlich nicht stören,” witzelte er.

„Sehr richtig, Herr Meyer, Sie stören auch wirklich nur, — nicht nur jetzt, sondern auch immer, jawohl, immer!”

„Immer?! Hab' ich recht gehört?!”

Resolut nickte Betti: „Jawohl, Sie haben ganz recht gehört, Herr Meyer!”

Da wurden seine Augen erheblich größer, und ganz erstaunt sah er die Zofe an.

„Das ist ja das Neueste! Seit wann hat denn die Gnädige so oft Jerrenbesuch?”

Jetzt bekam Betti vor Zorn einen roten Kopf, und ziemlich kurz sagte sie; „Ich muß doch recht sehr bitten, Her Meyer, ja! Und selbst wenn es so wäre, Sie wären doch gewiß der letzte, dem wir darüber Rechenschaft ablegen müßten, sollt' ich meinen!”

„Ach nee!” scherzte er, „am Ende steht das gnädige Fräulein etwa gar vor der Verlobung?”

„Etwa gar — ist ja prachtvoll!” rief die Zofe in ehrlicher Entrüstung. „Haben Sie sich etwa gar eingebildet, das gnädige Fräulein warte auf Ihren Heiratsantrag?”

Meyerchen näselte indigniert, schüttelte den Kopf bedächtig, dann sah er in das vom Zorn so lieblich errötete Gesicht der Kleinen, lächelte ihr gutmütig zu und sagte: „Liebes Kind, Sie sind ein tüchtiges Mädchen, zwar reichlich derb und kurz angebunden, aber so was imponiert mir nun nal, ja, ja, alles was recht ist, solche Tüchtigkeit muß man anerkennen! Und unsere Gnädige kann wirklich froh sein, daß sie solche tüchtige Zofe hat! — Ja, ja, das ist mein voller Ernst!” Dann langte er aus der Tasche ein Goldstück: „Hier, behalten Sie das zum Andenken an diese merkwürdige Stunde!”

„Behalten Sie es nur selbst!” entgegnete Betti empört und schob seine Hand zurück.

„Also nicht!” — Achselzuckend steckte er sein Geld wieder ein und ging hinaus, von der Kleinen geleitet.

Als sie ihn endlich glücklich hinausbugsiert hatte, lief sie fröhlich in die Küche, wo ihr Willi mit gutem Appetit bei einem schnell zurechtgemachten Frühstück saß, und erzählte ihm voll Freude, welch guten Dienst sein vergessener Hut und Stock jetzt eben geleistet hatten. Der lustige Bursche lachte herzhaft auf und sagte mit einer gewissen Betonung: „Ja, ja, so'n bißchen aufgestachelte Eifersucht ist manchmal wirklich gar nicht zu verachten, die löst einem dann im Moment die Zunge, und was man sonst in Tagen und Wochen nicht über die Lippen gebracht hätte, das kommt nun auf einmal ganz von selbst heraus, ohne daß man noch viel Mühe davon hat.”

Da auf einmal schlug die elektrische Glocke wieder an. Und an der eigentümlichen Art des Druckes erkannte Betti, daß es der Herr Doktor Behm war, der da so stürmisch Einlaß begehrte. Und da — wie von blitzartiger Schnelle — kam ihr urplötzlich eine originelle Idee.

„Die Zunge lösen” hatte ihr Bräutigam eben erst gesagt, als er über die Hutgeschichte gescherzt hatte. Wie wäre es, wenn sie hier einmal Schicksal spielte? Sie wußte ja nur zu genau, daß ihre Herrin diesen schüchternen Herrn Doktor von ganzem Herzen liebte. Wie wäre es, wenn man nun mit Absicht mal den Trick vom fremden Hut und Stock benützte, um dem so schwerfälligen Freiersmann schnell und schmerzlos die Zunge zu lösen? Wenn das Spiel gelang, war das Glück ihrer Herrin gemacht, und sie würde gewiß nicht böse sein über den Scherz. Jaeohl! Der Ulk wird gemacht.

Und schnell lief sie hinaus, um zu öffnen.

Natürlich war es der Herr Doktor. Und wie sah er aus! Nervös und aufgeregt. Das Haar ganz wirr. Die Krawatte halb gelöst. Und in den Augen eine förmliche Angst.

„Ist das gnädige Fräulein noch zu Hause?”

„Jawohl, Herr Doktor!”

„Bitte, wollen Sie mich melden!”

„Gewiß, Herr Doktor!”

Lächelnd führte sie ihn in das Studierzimmer, zog ihm einen bequemen Sessel heran, und zwar so, daß er genau gegenüber dem Stuhl stand, auf dem Hut und Stock noch immer paradierten, so daß der Blick des nervösen Herrn Doktors unbedingt auf beide Gegenstände fallen mußte.

„Einen Augenblick, bitte! Wollen der Herr Doktor inzwischen ein wenig Platz nehmen.”

„Gewiß, jawohl! — Doch halt — warten Sie mal, bitte, ja!” — Nervös zuckte er an seinem Bart. „Glauben Sie etwa, daß ich stören könnte?”

„Ich werde sehen, Herr Doktor.”

„Ja, bitte, sehen Sie zu, jawohl! — Und dann — ach, bitte, einen Moment noch! — Und dann — dann sagen Sie dem gnädigen Fräulein — das heißt, nein! sagen Sie lieber nichts! — Oder doch! Ja, bitte, doch! Sagen Sie freundlichst, ich hätte mir die Sache von vorhin nun doch überlegt, und ich glaube wohl, daß — daß — — nein, nein, es ist doch besser — Sie sagen nur, daß ich da bin, — ja wohl, so ist es richtiger!”

„Wie der Herr Doktor befehlen.”

„Aber halt, bitte! — Wenn ich nun störe?”

„Ich werde sehen, ob das gnädige Fräulein allein ist!” Damit verschwand lächelnd die Kleine.

Ziemlich erstaunt sah er ihr nach. Und die letzten Worte klangen ihm recht herb in den Ohren. „Ob das gnädige Fräulein allein ist!” — hm, was spllte das heißen? Wer sollte denn so früh schon bei ihr sein? Sonderbar, sehr sonderbar! — Und mit welcher eigentümlichen Betonung die Kleine jene Worte gesprochen hatte! Wirklich, recht sehr sonderbar!

Er ging umher. Sein Blick streifte den Spiegel. Herrgott, wie er nur aussah! Und schnell ordnete er seine Toilette.

Dann versank er in Nachdenken.

Das Herz pochte ihm noch immer, so erregt war er bis jetzt umhergelaufen. Keine Ruhe ließen ihm die Worte des Fräuleins. Was hatte sie gesagt? „Einen wirklichen, wahren Freund, — noch habe ich ihn nicht so ganz, aber bald werde ich ihn wohl bestimmt haben!” — Das war es, was ihn nicht zur Ruhe kommen ließ, was ihn bis jetzt atemlos umhergejagt hatte! — Sie hatte einen wahren, wirklichen Herzensfreund? Und er, der Narr, er hatte sich eingebildet, daß sie für ihn etwas empfinde?! — Ach, das Herz pochte im Galopp, so erregt pulste das Blut durch seine Adern. — Wie konnte er Narr, er blöder Tor, denn auch nur einen Moment lang sich so etwas einbilden?! Er, der simple, der schüchterne Privatdozent und sie, die so gefeierte Sängerin! — Narrheit, Torheit war es ja! Direkt verblendet war er ja!

Nein, nein! Nichts! Kein Wort erst mit ihr darüber sprechen! Denn was sie ihm antworten würde, das wußte er ja schon jetzt! — Nein! Lieber auf und davon! — Schnell ein energisches Ende dieser verliebten Einbildung! Ein barer Unsinn, daß er überhaupt nochmal wiedergekommen war! Aber er liebte sie ja doch! Er liebte sie ja doch über alles in der Welt! Er war doch zurückgekommen, um sich Gewißheit zu verschaffen!

Herr Gott! Weshalb war er nur so ein schüchterner Peter gewesen, all die Zeit lang? Längst, längst hätte er doch sprechen sollen! Und auf einmal erklangen ihm wieder die Worte der kleinen Zofe: „Ich will sehen, ob das gnädige Fräulein allein ist!”

Hell und herb erklangen sie ihm. Und da kam es über ihn wie eine große Traurigkeit, und es war ihm, als sähe er sein Glück entschwinden in weite, weite fernen. Betrübt sank er in den Sessel und sah nsinnend vor sich hin. Plötzlich stutzte er.

Da! Was ist das?! Was liegt da vor ihm auf dem Stuhl?! Ein Hut! Ein Herrenhut! Und ein Stock! Zitternd stand er auf und starrte die beiden Gegenstände an. Also war Herrenbesuch hier! So, so! Deshalb also die so eigenartig betonten Worte der Zofe! Deshalb also! In Erregung stand er da und starrte nur immer auf den Hut und den Stock. Deshalb! Deshalb also!

Vielleicht hielt dieser gute Freund da drinnen jetzt gar schon um ihre Hand an?! — Zitternd und bebend stand er da.

Wenn es wirklich so war, — wenn sie, die Angebetete, ihm nun für ewig verloren war?!

Schrecklich, schrecklich wäre das! Nicht überleben würde er das!

Und plötzlich kam eine Wut über ihn, eine ganz maßlose Wut, die ihn ganz von Sinnen machte, und wie in Raserei ergriff er den Stock und schlug zornbebend auf den Hut los, bis er zerbeult und zerknickt war.

Da mit einem Male öffnete sich nebenan die Tür und Fräulein Eva rief lachend: „Aber, lieber Herr Doktor!” Und da plötzlich wurde der Rasende wie im Umsehen wieder sanft und still. Und nun stand er da, gedrückt und beschämt, als armer Sünder.

Eva trat lächelnd näher; sie war von Betti über alles unterrichtet und hatte bis jetzt an der Tür gelauscht.

Und als sie ihn so hilflos dastehen sah, rief sie heiter: „Was hat denn der arme Hut nur verbrochen?”

„Tausendmal Verzeihung,” bat er, „aber ich muß rein von Sinnen gewesen sein, sonst hätte ich wirklich nicht so etwas tun können!”

Da machte sie kurzen Prozeß, trat entschlossen zu ihm heran und sagte mit liebherziger Stimme: „O, du lieber, du guter, dummer Mensch, du!”

Und da, wie mit einem Schlage, wie mit Zaubergewalt, da war er erlöst von dem Banne, der ihn so lange bedrückt hatte,

Glückstrahlend sah er sie an und rief: „Weshalb hast du denn nicht schon längst ,du' gesagt zu mir? Dann wäre ja alles das gar nicht geschehen!” Und beseligt schloß er sie in die Arme.

Dann aber, als sie sich wieder aus seinen Armen befreite, dann sah er den zerschlagenen Hut, und dann fragte er heiter: „Wem aber gehört denn jetzt der Unglückshut?”

Fröhlich antwortete sie: „Der gehört Bettis Bräutigam, der blieb nur hier liegen, um dir endlich die Zunge zu lösen.”

„O, ich Narr, ich eifersüchtiger Narr!” sagte er beschämt. Dennoch aber freute er sich, daß er sich hatte überlisten lassen,denn aus Evas strahlenden Augen leuchtete ihm nun das Glück der Zukunft.

Dann aber ging er hinaus, drückte dem erstaunten Willi ein Zwanzigmarkstück in die Hand für einen neuen Hut.

Und Willi, der ein sehr erstauntes Gesicht machte, sah fragend zu Betti hin.

Die aber nickte lächelnd: „Es stimmt schon! Sei froh, daß du so billig zu einem neuen Hut kommst!”

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